Claude Piron

Diese Erdlinge sind echte Masochisten


— Nein, Eure Exzellenz, im Gegensatz zu dem, was Gorogol sagte, sind die Menschen nicht dumm. Was Gorogol fũr Dummheit hãlt, ist in Wirklichkeit Masochismus, gepaart mit einem gewissen Hang zur Ungerechtigkeit, der aber von Arroganz herrũhrt, welche wiederum aus Unsicherheit entsteht.


— Langsam, mein Sohn. Ich verliere den Faden. Wir schickten dich zur Erde, damit du planetare Kommunikation studierst. Und nun kommst du zurũck und ũberhãufst uns mit moralischen und psychologischen Beobachtungen, die nichts mit diesem Thema zu tun haben.


— Verzeiht mir, Exzellenz. Dummheit ist nur die leichtfertige Diagnose, die man stellen mag, wenn betrachtet, wie die Erdlinge ihre internationale Verstãndigung bewãltigen. Seht einmal auf diese Karte hier. All diese Flãchen in verschiedenen Farben sind Lãnder, jedes einzelne mit seinem eigenen Staatswesen. Dies hier sind die Vereinigten Staaten. Dieses hier heiſzt Indien, dieses Angola, dieses Italien, es gibt eine Menge davon. Nun jetzt, da sie mittlerweile alle ein gehobeneres Niveau an Zivilisation erreicht haben, gibt es viele Dinge, die sie miteinander bereden mũssen und welche den gesamten Planeten betreffen. Was, glaubt ihr, tun sie?


— Sie werden wohl Delegierte an einen fũr jeden erreichbaren Ort entsenden, wo sie sich treffen und Unterhandlungen fũhren kõnnen.


— Richtig. Sie tun genau dies, jedenfalls kõrperlich. Geistig tun sie es nicht. Eine groſze Anzahl von ihnen lernt viele Jahre lang verschiedene Sprachen in der Schule, doch wenn sie in solchen Unterhandlungen, die sie zum Beispiel Vereinte Nationen oder Internationale Organisation Ziviler Luftfahrt nennen, zusammentreffen, haben sie keine gemeinsame Sprache. Sie starren einander an, unfãhig miteinander zu reden. Um miteinander zu kommunizieren, bemũhen sie eine kostspielige und aufwendige Ansammlung von Maschinen, zusammen mit der dazugehõrigen hochqualifizierten Mannschaft.


— Gorogol hatte ganz Recht: Sie sind dumm.


— Nein, Exzellenz. Wenn sie dumm wãren, hãtten sie diese Ansammlung von Maschinen nicht bauen kõnnen. Sie sind vielmehr Masochisten. Betrachtet diese kleine Halbinsel hier, sie nennen sie Europa. Nun, hier muss selbst der geringste Hersteller von Kãse die Etiketten seiner Packungen in mindestens ein halbes Dutzend Sprachen ũbersetzen. Das kostet viel, und diese Kosten trãgt der Kãufer. Es gibt sogar ein ganze Palette internationaler Zusammenschlũsse, die Unsummen von Geld fũrs Ũbersetzen und Dolmetschen ausgeben. Die Regierungen der beteiligten Lãnder holen sich diese Summen ohne die geringsten Gewissensbisse aus den Taschen der Steuerzahler.


— Das ist ja geradezu pervers!


— Sicher, aber die Steuerzahler lassen ihr Geld mit Freuden fũr derlei Zwecke. Sie sind garnicht einmal pervers zu nennen, da die Sache sogar recht ausgewogen ist: Wãhrend die Staaten einfach simple Sadisten sind, sind die Steuerzahler einfach nur Masochisten.


— Und das alles nur, um ũber Sprachbarrieren hinweg zu kommunizieren?


— Nicht ganz, Exzellenz. Dieses System wird mehr und mehr zu einer fõrmlichen Sache. Im Alltag kommen sie langsam darũber ũberein, eine gemeinsame Sprache zu benutzen.


— Warum sagst du das denn nicht gleich? Wenn sie eine gemeinsame Sprache benutzen, so sind sie doch auch nicht dũmmer oder masochistischer als wir es sind.


— Sind sie doch. In unserem Teil der Galaxis benutzen wir ja eine Sprache, die vollkommen neutral und fũr jeden einfach zu erlernen ist. Es ist keine Sprache eines einzelnen Volkes oder eines einzelnen Planeten, so dass wir uns auf einer gemeinsamen Ebenen verstãndigen kõnnen und keinen groſzen Aufwand benõtigen, die Schwierigkeiten der Kommunikation zwischen den verschiedenen Sphãren und Kulturen zu meistern. Es sind ja zehn Minuten am Tag ein Jahr lang in der Grundschule, und vielleicht ein wenig Ũbung danach, aber nicht mehr.


— Tun die Erdlinge dies nicht?


— Nein. Um zu miteinander zu reden, haben sie eine Sprache gewãhlt, die aus allen anderen daher hervorsticht, dass sie besonders wenig mit ihnen gemeinsam hat. Beschaut noch einmal die Karte. Dies hier ist der sogenannte Kontinent Europa, dies hier Lateinamerika, dies dort ist Afrika und dies Indonesien. Dort leben zusammen genommen viele Millionen Erdlinge, wahrscheinlich sogar mehr als eine Billion. Nun, auf diesem riesigen Gebiet haben sie ein Schriftzeichen, das so geschrieben wird: A. Alle diese Millionen Erdlinge sprechen es gleich aus, sogar die meisten von ihnen, die ein ansonsten abweichendes Zeichensystem benutzen, so wie die Griechen und die Russen (deren Sprache in diesem riesigen Gebiet in Asien, nõrdlich jener Berge hier benutzt wird). In der Sprache jedoch, die sie zur Verstãndigung gewãhlt haben — sie nennen sie Englisch, da sie von dieser winzigen Insel hier, namens England, stammt — wird dieses Schriftzeichen jedoch selten in seinem praktischen und universellen Wert behandelt. Es steht fũr eine ganze Reihe ganz unterschiedlicher Laute. Betrachtet diese Worte hier und achtet darauf, wie ich das A in ihnen aussprechen werde: BAD; ALL; FATHER; COURAGE; FACE.


— Erstaunlich! Was fũr ein abwegiger Gedanke, das selbe Zeichen fũr all diese unterschiedlichen Laute verwenden zu wollen!


— Umso abwegiger wird es auf der internationalen Ebene. Alle Erdlinge, die in einer Bantusprache wie Suahili lesen und schreiben gelernt haben, oder in einer Lateinsprache wie Spanisch, oder in einer Slawensprache wie Tschechisch, oder in einer Germanensprache wie Nederlãndisch, sprechen es alle in der selben Weise aus. Sogar in China — dieser groſze Fleck hier auf der Karte — lernen die Kinder zuerst in Lateinsystem zu schreiben (sie lernen ihr eigenes Schriftsystem erst hiernach) und sprechen dieses Zeichen eben genauso aus, wie es ihre Nachbarn, die Japaner, tun, wenn sie ihre Namen fũr Nichtjapaner verstãndlich aufschreiben mõchten. Die Englischsprechenden, so werden sie genannt, sind die einzigen mit dieser seltsamen Manier, die Zeichen ihres Schriftsystems ganz kunterbunt auszusprechen. Dieses andere Zeichen, zum Beispiel: I, wird in gleicher Weise auf dem gesamten Planeten ausgesprochen, einschlieſzlich der Transskriptionen des Hebrãischen, Arabischen, Chinesischen und Japanischen; nur die Englischsprechenden geben ihm andere Werte. Vergleicht einmal diese beiden: BIT und BITE.


— Du sagst also, dass Uneinigkeit auf dem Planeten herrscht. Doch willst du mir erzãhlen, dass sie zur Verstãndigung die einzige Sprache wãhlten, die anders funktioniert und komplizierter und unlogischer ist als jede andere? Haben sie denn ihre einzige Ausnahme zum Standard erhoben?


— Ja, Exzellenz. Ist dies nicht ein hervorragendes Beispiel fũr Masochismus? Sie haben das System, das noch komplizierter ist als nõtig, als das zu Grunde liegende erklãrt; es verhindert von vorn herein eine flũssige Verstãndigung fũr die Mehrzahl aller Erdlinge. Viel mehr noch: Es ist ungerecht. Soweit es Sprachen angeht, hat ein Englischsprechender nichts weiter zu tun, als sich in seinem eigenem System alle Anfãlligkeiten der Kommunikation anzueignen, wãhrend die groſze Masse der Erdlinge viele Stunden der Wochen der Jahre ihres Lebens opfern mũssen, um sich in den wensentlichen Bestandteilen dieser Kommunikationsform einigermaſzen auszukennen, ganz zu schweigen davon, dass sie sich jemals auf eine gleichberechtigte Ebene mit den Englischsprechenden emporschuften kõnnten. Ich habe euch gerade die Schrift und die Aussprache erlãutert, aber noch viel grõſzere Widrigkeiten lauern in der Sprache selbst. Zum Beispiel gebrauchen die meisten Sprachen des Planeten nur ein Wort, um solche Ideen wie ›Freiheit‹, ›lesen‹, ›unvermeidbar‹, ›kaufen‹ oder ›brũderlich‹ auszudrũcken. Wũrdet Ihr die Sprache erst einmal mũhsam erlernt haben, wũrdet ihr sie vielleicht in der Form von freedom, read, unavoidable, buy, brotherly durchaus erkennen. Doch beherrscht ihr Englisch, oder zumindest seine Schriftsprache, die in allen Vertrãgen oder Werken ũber Dinge der Wissenschaft oder des Handels bei ihnen eine enorm groſze Rolle spielt, nicht vollstãndig, werdet ihr freilich ũber die Worte liberty, peruse, inevitable, purchase, fraternal wenn nicht fallen, so doch stolpern. Erdlinge, die nicht Englischsprechende sind, werden das gesamte Vokabular doppelt lernen mũssen, um im Mindesten bis zur Hũfte des Wortschatzes eines Englischsprechenden heranreichen zu kõnnen. Doch es geht noch weiter: in der ganzen Welt sind Vokabeln gebrãuchlich, die praktischer Weise von einander abgewandelt werden, so dass das Gedãchtnis nicht ũber die Maſzen strapaziert werden muss; nehmen wir einmal den Zahnarzt, ein > Arzt, der sich ja bekannterweise um den Zahn* kymmert: franzøsich: dent* >dentist; japanisch: ha* >ha-isha; finnisch: hammas* >hammaslääkäri; indonesisch: gigi* > doktor gigi. Nur das Englische tanzt hier, wie in vielem anderen auch, aus der Reihe. Man muss nicht einfach nur lernen, dass Zahn tooth* heiſzt und in der Mehrzahl teeth, nein, hinzu muss man noch im Gedãchtnis halten, dass sich das entsprechende Wort fyr Zahnarzt nicht aus diesem und den gelernten Worten fyr Arzt (physician, medic, surgeon, doctor) abgeleitet werden kann, sondern dass der entsprechende Begriff nicht anders lauten soll als > dentist. Das Englische birst geradezu vor solchen Beispielen.


— Eine fũrwahr seltsame Sprache!


— Es geht noch weiter. Es gibt in dieser Sprache auſzerdem eine Menge an Ausdrũcken, die aus einem Verb und einer Prãposition bestehen, die alles Mõgliche bedeuten kõnnen auſzer dem, was man aus ihren Bestandteilen ableiten kõnnte. Zum Beispiel kann man gelernt haben, was make und up bedeutet, jedoch wird dies einem in keinster Weise auf der Suche nach der Bedeutung von make up weiterhelfen, zudem noch mehrere Bedeutungsvarianten nebeneinander existieren, wie an den folgenden zwei Extrakten aus Romanen von P. G. Woodhouse deutlich gemacht werden kann: ›He's made up his mind to stay in‹ / ›Well, I've made up my face to go out.‹


Auf jeden Fall handelt es sich hier um eine Sprache, die schon einiges an Zeit fordert, bevor man sie annãhernd versteht. Ein Koreaner oder Chinese, der sein Englisch auf ein geeignetes und angemessenes Maſz anheben mõchte, um zum Beispiel an einem Gesprãch ũber wissenschaftliche oder technische Belange Teil zu nehmen oder einen juristisch verklausulierten Vertrag unterschreiben will, muss mindestens 8.000 Stunden Lernzeit investieren, um dieses Niveau zu erreichen. Bei einem Pensum von 40 Stunden in der Woche (!) sind dies 200 Wochen, in anderen Worten: Fast vier Jahre lang ohne Urlaub und Wochenende. Dabei mag man bedenken, dass europãische Eltern ihren Sprõsslingen hingegen hunderte Schulstunden und etliche Ausgaben diverser zweisprachiger Wochenzeitschriften ũber ein knappes Jahrzehnt angedeihen lassen, ohne dass sich auch nur die geringste Chance beim Nachwuchs ausmachen lieſze, sich jemals geruhg mit einem Englischsprechenden auf gemeinsamen kommunikativen Niveau unterhalten zu kõnnen. Es ist ũberhaupt kein Wunder, dass Tausende Reisende, die sich des Englischen mehr oder minder bedienen, stãndig mit Ãrgernissen und Missverstãndnissen zu kãmpfen haben, nur weil die anderen Nichtenglischsprechenden das Englische in nicht ganz richtiger Konnotation anzuwenden wissen; wobei man bedenken muss, dass auf Terra die Grũnde einer nicht zustande gekommenen Kommunikation nur zu gerne in den Hierarchien zwischen Kulturen gesucht wird, das heiſzt, dass derjenige, der der benutzten Sprache mãchtiger ist als der Gesprãchspartner, sich gerne im Licht des Ũberlegeneren fũhlt. Sobald man sich in eine Fremdsprache begibt, ist man entweder Herr oder Sklave. Doch noch nie hat man jemanden ũber diese Ungerechtigkeit klagen hõren. Die Erdlinge haben ein fũr alle Male freiwillig beschlossen, mit diesem System zu leben, so viele Ãrgernisse und Missverstãndnisse es auch beinhalten mag, und das obwohl sie niemand zu diesem System gezwungen hat. Wenn dies kein Masochismus ist, so weiſz ich's nicht besser.


— Augenblick, Junge. Nicht zu schnell. Vorerst erklãre mir, warum der Planet Erde noch keine interkulturelle Zwischensprache geschaffen hat, wãhrenddessen dies im gesamten Rest der Galaxie schon Gang und Gãbe ist.


— Eure Exzellenz! Die Dinge entwickelten sich im gleichen Tempo wie bei uns!


— In wie fern? Willst du etwa sagen, sie hãtten ebenfalls eine unparteiische und internationale Sprache? Warum gebrauchen sie sie nicht?


— Eben. Die sprachwissenschaftlichen Schõpfungen der Erdlinge sind der unseren ebenbũrtig. Viele Autoren gaben Anstoſz zu einer zwischenkulturellen Sprache. Und viele davon arbeiteten zu wenig an der Idee oder gerieten bald in Vergessenheit, genau wie bei uns. Eines Tages jedoch erschien ein sehr praktisches Projekt, das von seinem Schõpfer Internationale Sprache genannt wurde. Er verõffentlichte das Projekt aus vielen Grũnden der damals herrschenden sozialen und politischen Situation heraus unter dem Psyeudonym Dr. Esperanto. Dieses Projekt wurde von den fũhrenden Klassen wenig beachtet, dafũr aber von vielen Erdlingen verschiedener sprachlicher Hintergrũnde zum Zwecke einer internationalen Kommunikation ũbernommen. Die Sprache verbreitete sich nach und nach ũber den ganzen Planeten und erreichte alle Võlker. Sie wurde immer reicher und flexibler durch ihren Gebrauch und durch die Werke vieler bedeutender Autoren.


—So verliefen die Dinge doch in sehr ãhnlicher Weise wie bei uns, oder etwa nicht?


— Oh doch. Es gab eine Art Wettbewerb unter den rivalisierenden Kandidaten, der bestimmte Unterschiede von Inhalt und Verhalten hervorbrachte. Eine Sprache ging jedoch deutlich als Sieger aus dieser Form natũrlicher Auslese hervor, diejenige, die nun mittlerweile allgemein Esperanto genannt wurde. Das Leben machte eine lebendige Sprache aus ihr, mit eigenen Liedern, Witzen und Literatur.


— Mein Sohn, ich verstehe nicht. Warum bedienen sich die Erdlinge nicht dieser Sprache, um ihr Kommunikationsproblem zu beheben?


— Aus Dummheit, wũrde Gorogol sagen; ich aber sage: Masochismus. Durchschnittlich ergeben zehn Monate Esperanto ein Kommunikationsvermõgen des Niveaus von zehn Jahren Englisch, setzt man denselben Lerneifer mit derselben Stundenzahl in der Woche voraus. Gãbe es diesen Faktor des Masochismus nicht, hãtten die Erdlinge schon lãngst ihre Regierungen genõtigt, den einjãhrigen Unterricht von Esperanto in allen Schulen einzufũhren, wonach die Schũler die eine oder andere nãchste Fremdsprache ihrer Wahl erlernen kõnnten, wenn sie denn wollten, etwa aus kulturellen oder anderen Interessen. Diese Vorgehensweise wũrde alle ihre Probleme der Verstãndigung mit einem Schlage lõsen, ohne die geringsten Unannehmlichkeiten zu verursachen.


— Nun verstehe ich, warum du von Masochismus sprichst. Aber erwãhntest du nicht auch Arroganz vor ein paar Augenblicken?


— Ja, in der Tat. Der Masochismus kann nãmlich nur so lange aufrecht erhalten werden, als dass alle Erdlinge der Ũberzeugung sind, dass eine internationale Sprache weder existiert noch funktoiniert. Und das — kommt von der ũbertriebenen Auffassung der Erdlinge ũber ihre eigene Kompetenz.


— Das musst du mir erklãren.


— Im Lauf meines Forschens befragte ich viele Erdlinge. Wann immer ich das Wort Esperanto erwãhnte, erntete ich in vielen Fãllen Ironie und ũberhebliches Lãcheln. In vielen Fãllen, nicht in allen. Einige Erdlinge waren von sich aus interessiert und durchaus bereit, mit der Vorstellung zu leben; diese Menschen gestatteten sich auch sonsthin keinerlei Form von Arroganz oder Ũberheblichkeit. Doch viele Menschen, besonders in Europa, reagieren darauf mit nichts als Abscheu. Und diese Abscheu rũhrt von der tiefen Ũberzeugung her, bereits alles zu wissen, was es zu wissen gibt — eine Art umfassender Selbstherrlichkeit, die sich darin ãuſzert, alles beurteilen zu wollen, ohne sich vorher mit den Fakten auseinander gesetzt zu haben.


— Willst du etwa behaupten, sie lehnten Esperanto ab, ohne auch nur irgendetwas darũber zu wissen?


— Genau so ist es. Sobald man sie nãher zu dieser Angelegenheit befragt, tritt klar zu Tage, dass sie nicht den blassesten Schimmer davon haben, was Esperanto ũberhaupt ist; geschweige denn wissen, dass es Menschen gibt, die sich in dieser Sprache mit Fremden unterhalten, dass Kinder in dieser Sprache aufwachsen, dass Dichter unbezweifelbaren Ranges sie benutzen, dass tãglich Radiosendungen in dieser Sprache ausgestrahlt werden oder dass viele Leute in ihr per elektronischer Post miteinander korrespondieren. Sie attestieren dieser Sprache faktisch nicht vorhandene Mãngel und unterschũtzen ihre wirklichen Grenzen um Lichtjahre. Auf der anderen Seite erscheint es ihnen aber bei Weitem nicht so, dass sie Urteile fãllten, die sie zuvor nicht eingehend an Hand der gegebenen Fakten untersucht hãtten.


— Das glaube ich nicht.


— Und doch ist es so. Betrachtet dieses Mitbringsel. Es ist eine ihrer Zeitungen, die USA Today. Dieser Artikel hier enthãlt einige wohl gesonnene Information ũber Esperanto, obschon sein Wert hier irritierender Weise in den Raum des Religiõsen gelegt wird. Aber ein Abschnitt des Artikels zitiert einen gewissen Robert Trammel von der Abteilung fũr Sprachen und Sprachforschung der Atlantischen Universitãt von Florida in Boca Raton wie folgt: ›Der Grund, weshalb Esperanto sich nicht durchgesetzt hat, ist der, dass es immer etwas ist, was der Sprecher zusãtzlich zu seiner Muttersprache erlernen muſz — es ist immer etwas Extra.‹.


— Nun, wenn es eine gemeinsame Sprache zur internationalen Verstãndigung ist, wie kõnnte sie denn zu einer anderen Zeit gelernt werden als nach der Muttersprache? Dies ist schiere Dummheit, fũrwahr!


— Sicher, doch ist diese Dummheit in Wirklichkeit nur Arroganz. Weil dieser Mensch an einer Universtitãtsabteilung fũr Sprachen und Sprachforschung lehrt, glaubt er, alles ũber eine Sprache behaupten zu dũrfen, ohne sich vorher mit den Tatsachen auseinander gesetzt zu haben. Dies begreifen aber nur diejenigen Menschen, die erst vorher schon einmal verstanden haben, worum es eigentlich geht. Die vielen anderen werden sich nach der Lektũre des Artikels lediglich spãter daran erinnern, dass ein Sprachenspezialist Esperanto in Frage gestellt und als unseriõs befunden hat. Ein anderer Ausspruch desselben Erdlings wird an anderer Stelle so aufgefũhrt: ›im Grunde ist Esperanto eine indoeuropãische Sprache‹, und zeigt doch nur, dass er sich herausnimmt, eine Sprache von vorn herein einzusortieren, ohne vorher die ansonsten obligaten Methoden der sprachlichen Analyse zur Klassifizierung einer Sprache nach den ũblichen Kriterien auf Esperanto angewandt zu haben. In Wahrheit verhãlt es sich so, dass Esperanto aus unverãnderlichen Elementen besteht (die die Sprachforscher als Morpheme bezeichnen), die ohne jede Einschrãnkung miteinander kombiniert werden kõnnen. So kann man zum Beispiel ›meine -r,-s‹ von ›ich‹ ableiten (mi > mia) und ›erste -r,-s‹ von ›eins‹ (unu > unua), ein Mittel, dessen man sich in einigen Sprachen wie dem Chinesischen bedient, aber nicht in einer der indoeuropãischen —


— Bitte Sohn, werd nicht so spezifisch. Ũber Sprachen weiſz ich nichts, doch glaube ich dir, dass du die Wahrheit sprichst. Dieser Mann erlãutert also eine Sache, ũber die er nichts weiſz; und er tut Unrecht. Wenn er sich einbildet, eine Sprache zu besprechen, mit der er sich nicht zuvor bekannt gemacht hat, weil er ansonsten viel ũber Sprachen weiſz, so ist er in der Tat arrogant. Doch ist dieser Fall die Regel?


— Und ob, Excellenz.


— Da dies die Regel ist, so scheint es, dass die Wesen dieses Planeten eine Sache wohl niemals in einem dafũr geeigneten Rahmen zu betrachten pflegen.


— Fũrwahr. In der internationalen sprachwissenschaftlichen Kommunikacion spielen alle mõglichen Faktoren eine Rolle: Politische, õkonomische, soziale, psychologische, erzieherische, kulturelle, linguistische, phonetische und so weiter. Diese Wesen bestehen grundsãtzlich auf detaillierte, profunde und allumfassende Analysen. Und dennoch ist selbst der niederste Erdling ũberzeugt davon, sich mit dem Thema nach zwei Sekunden zur Genũge beschãftigt zu haben. Und mag auch der selbstsichere Ausdruck auf ihren Gesichtern darũber hinwegtãuschen: Es handelt sich um Arroganz, sehr wohl.


— Du bist noch jung, mein Sohn. Und ich frage mich, ob da nicht ein bisschen Mangel an Toleranz in deiner Beurteilung der Erdlinge mitspielt. Bist du vielleicht nicht selbst ein bisschen arrogant? Bist du sicher, dass du nicht dabei bist, einen wirklich komplizierten Sachverhalt einfach auf die Ebene der Lãcherlichkeit herunter zu spielen?


— Nun — Um es so zu sagen, Eure Exzellenz — Naja — Ich, ãh —


— Anstatt zu stottern wũrdest du besser daran tun, mich daran zu erinnern, woher diese Arroganz rũhrt, so wie du es vor einigen Augenblicken erwãhntest. — Ich sagte, Exzellenz, diese Arroganz ist Zeugnis von Unsicherheit.


— Warum Unsicherheit?


— Die Erdlinge wissen sich nur schwer mit ihren Schwãchen, ihrer Geringheit, alles in allem mit ihrer Menschlichkeit abzufinden. Sie leben in einem allgegenwãrtigen Gefũhl von Unsicherheit, das mit einigen wenigen geteilt, gegenũber den meisten aber nicht ausgedrũckt wird. Dies hat fũr den Groſzteil von ihnen die bedeutende Folge, daſz jedes anfallende Problem einfach nicht angesprochen und ignoriert wird. Auch Ihr fũhlt euch besser, nachdem ein Problem gelõst worden ist, als dass Ihr Euch noch mit ihm befassen mũsst, nicht wahr? Um dieses Gefũhl der Erleichterung zu erreichen, erschaffen sich die Erdlinge allerlei Mythen.


— Was fyr Mythen?


— Es sind zu viele, um einzeln auf sie einzugehen. Zum Beispiel, dass das Verfahren der Ũbersetzung reibungslos funktioniert. Dass man mit Englisch in der ganzen Welt auskommen kann. Dass man eine ihrer Sprachen innerhalb dreier Monate erlernen kann (dies behaupten sie in verschiedenen Anzeigen), oder zumindest wãhrend der Schulzeit. Sobald man diese Behauptungen aber ohne Vorurteile an den vorherrschenden Missstãnden misst, sieht man bald, dass sie nirgendwo standhalten kõnnen oder zumindest einer dringenden Relativierung bedũrfen. Und ebenso viele Mythen gibt es ũber Esperanto. Die erste Reaktion, die man fũr gewõhnlich bei Erdlingen mit der bloſzen Ãuſzerung des Wortes hervorruft, sind die Ũberzeugungen, dass diese Sprache von vorn herein allen ethnischen Sprachen unterlegen sein muss, zum Beispiel, was ihre Ausdrucksfãhigkeit in emotionalen, poetischen oder interlektuellen Belangen betrifft. Doch wenn man sie erst einmal zu lernen begonnen hat, wird man sehr schnell merken, dass sie in keinster Art unterlegen, sondern in vielen Dingen, und dies schliesst die eben genannten Dinge mit ein, nicht einmal vergleichbar, sondern ihnen klar ũberlegen ist.


— Mein Sohn, mich beschleicht das Gefũhl, als mõgest du diese internationale Sprache, dieses Esperanto, viel zu sehr um wirklich frei urteilen zu kõnnen. Bist du nicht zu voreingenommen wie Gorogol, nicht zu hoch geklettert, um einen noch unverschwommenen Blick auf die Menschheit werfen zu kõnnen? Vielleicht hat dieses Esperanto ja auch einige Schwãchen, die du jedoch nicht in Betracht zu ziehen gewillt bist.


— Selbstverstãndlich, Exzellenz. Esperanto ist nicht perfekt, aber doch zwischen Personen verschiedener Sprachen weit besser geeignet als Englisch oder eine simultane Ũbersetzung. Keine Sprache ist in der Lage, wirklich alles wiederzugeben. Der eine oder andere Ausdruck hat im Franzõsischen sein eigenes Flair, das in keine andere Sprache, und sei es Esperanto, 1:1 transportiert werden kõnnte, geschweige denn ins Englische oder Deutsche. Doch auch das Gegenteil ist gleichermaſzen der Fall: Die eine oder andere Wendung des Esperanto, sei sie noch so herzhaft oder pikant, hat keinerlei Entsprechung in irgend einer Volkssprache. Esperanto ist nicht einfach ein Code. Es ist eine aus sich selbst heraus lebende Sprache wie jede andere auch, mit Seele, mit Selbstãndigkeit und Persõnlichkeit. Nur die Erdlinge sehen das nicht ein. Wenn andere Urteile ũber etwas fãllen, das ihnen unbekannt ist, greifen sie nicht ein, wenn andere etwas unterdrũcken, von dem sie selbst keine Ahnung haben, erdulden sie es ohne Widerrede. Doch wie kann das kommen?


— Du wirst es mir gleich sagen. Sind die Erdlinge nicht dumm, so wie du es so beharrlich aufrecht erhãltst, so wãren dies sicherlich Dinge, die sie niemals tolerieren wũrden


— Gewiss, Exzellenz, doch sie vermeiden es fleiſzigst, alle Ungerechtigkeit zu erkennen, so dass sie, wie alle guten Masochisten, in Ruhe die daraus erwachsenen Schwierigkeiten genieſzen kõnnen. Nehmen wir den Fall, dass bei uns ein groſzes Unternehmen — nennen wir es A — herausbekommt, dass ein viel kleineres Unternehmen (B) einen durchaus zufrieden stellenderen und õkonomisch lohnenderen Weg fũr die nagenden Probleme des Unternehmes A gefunden hat, welche A Millionen im Jahr kostet, so wird A keinen Augenblick zõgern, heraus zu finden, was B in diesem Fall tut, um diese Vorgehensweise fũr sich selbst zu ũbernehmen —


— Ich verstehe schon. Verfahren die Erdlinge etwa nicht so? Ich glaube kaum, was ich hõre.


— Sie tun es nicht. Zumindest, was ihre Sprachen betrifft. Auf ihrem Planeten gibt es solche Organisationen wie die Vereinten Nationen oder die Europãische Union, die Millionenbetrãge nur in den Versuch investieren, den zwischensprachlichen Abgrund zu ũberbrũcken, mit Systemen, deren Kosten-Nutzen-Berechnungen alle unsere Rechenmeister zu Lachkrãmpfen reizen wũrden. Auf der anderen Seite gibt es Vereingungen wie die Weltweite Esperanto Assoziation, an denen Menschen verschiedenster Kulturen an allen Aktivitãten, Konferenzen und Gremien direkt auf einer gemeinsamen Grundlage Teil nehmen, ohne auf bezahlte Ũbersetzer angewiesen zu sein oder auch nur einen Cent fũr die Ũbersetzung einer einzigen Rede oder eines herumgreichten Informationsblattes zu bezahlen.


— Und du behauptest, die nãmlichen Organisationen, Vereinte Nationen oder Europaunion oder wie sie heiſzen mõgen, hãtten nicht ein einziges Mal darauf geachtet, wie die zwischensprachliche Kommunikation in diesen Vereinigungen funktioniert? Unmõglich!


— Sie haben schon darauf geachet, jedoch keinerlei Konsequenz daraus gezogen. Ihnen erschien das Vorhandene als einfach vorhanden, nicht als eine Notwendigkeit, ũber das Vorhandene nãher nachzudenken. Die Ressentiments auf ihrer Seite sind eher a priori und hierarchisch bedingt. Jedoch darf man ihnen das nicht nachsehen. Sie werden nãmlich von jenen in ihre Posten gewãhlt, die mehr Ahnung von allem haben, als sie selbst. Drollig, nicht wahr?"


— Wenn man das drollig nennen will: Ja. Ich habe schon genug Schwierigkeiten, den Masochismus zu erkennen, doch es ist mir noch unbegreiflicher, das Fehlen sãmtlicher Neugier zu verstehen.


— Was mich erstaunt, Exzellenz, ist ihr Fehlen sãmtlichen Verantwortungsgefũhls. Das Geld, das so sinnlos ausgegeben wird, kommt von der groſzen Masse der Bevõlkerung. Was fũr viele nũtzliche Dinge kõnnten sie mit diesen astronomischen Summen anfangen, die sie fũr ihr Babel verschleudern.


— Du hast Recht. Ich bin versucht, sie ein fũr alle Male zu verdammen. Doch weiſzt du auch, dass ich einfach zur Gnade zu bewegen bin. Nenne mir einige Dinge, die meine Abscheu zu mindern vermõgen und mir helfen, sie einfach nur mit Mitleid zu betrachten.


Ihr seid zu gũtig, eure Exzellenz. Ich nenne dieses: Ihre Entschuldigung ist ihre Unbewusstheit. Esperanto ist keine ernste Sache, also warum sollten sie anfangen, die Sprache zu lernen? Es erinnert mich an eine Sentenz, die sie einem anderen Erdling, der ihre Bestimmtheit in Frage zu stellen suchte, entgegen hielten: Die Erde ist flach. Brichst du nach Westen auf, um gen Indien zu reisen, wirst du in den Abgrund fallen.


— Wirklich sehr seltsam. Wenn jemand bei uns eine solche Idee ãuſzerte, so tãten wir alles daran, sie zu ũberprũfen.


— Das ist wahr, jedoch die Terraner leben in Angst. Wenn man Angst hat, so krampft man sich an Dingen fest. Man hãlt fest an Privilegien und Dũnkel. Um sich der Realitãt auszusetzen, bleibt man einfach auf dem Standpunkt, bereits alles zu wissen, was es zu wissen gibt. Diese Verfahrensweise aufzugeben, bedeutet den sofortigen Verlust von Dũnkel und Privileg (›ich weiſz, das dies lãcherlich ist‹) und man sich augenblicklich der Blõſze der eigenen Unwissenheit preisgeben wũrde (›ich wiederhole lediglich, was ich hõrte oder was mir zuerst einfãllt, obwohl ich vom Thema keine Ahnung habe‹). Man begibt sich in die Gefahr, dass die Realitãt anders sein kõnnte, als man sie sich vorstellt. Und warum sollte man das Risiko eingehen, alle Dũnkel zu verlieren, wenn man sich tief im Innern klein und schwach fũhlt und keinen festen Stand hat? Diese grundlegende Unsicherheit der Einwohner des Planeten Erde hat doch wahrhaftig etwas Rũhrendes.


— Die armen Erdlinge! Das Problem der planetaren Kommunikation wird unter diesen Bedingungen schwerlich zu lõsen sein.


— Sie sind vollkommen unlõsbar. So leid es mir tut, sehe ich nichts, was man da tun kõnnte, eure Exzellenz. Ich habe Euch das Grundlegende mitgeteilt. Die Einzelheiten finden sich in meinem schriftlichen Bericht. Was ihr in Erinnerung halten mũsst, Exzellenz, ist, dass eine psychologische Unsicherheit die Erdlinge in Vorbehalte fũhrt, und diese Vorbehalte es ihnen unmõglich machen, die offensichtliche Lõsung zu erkennen, so dass sie zu allerlei schwierigen, komplizierten und kostspieligen Maſznahmen gezwungen sind, kurz, in ein absurdes System, in dem Ungerechtigkeit und Diskriminierung ohne Widerrede hingenommen werden und in denen ein Aufwand betrieben wird, der keinem Verhãltnis zu den erreichten Ergebnissen steht. Habe ich Euch ũberzeugt, Exzellenz? Stimmt ihr mit mir darin ũberein, dass die Behauptung Gorogols nicht aufrecht erhalten werden kann und dass es sich in diesem Fall nicht um Dummheit handelt, sondern vielmehr um eine Verkettung mehrerer Umstãnde, in der Masochismus das zusammenhaltende Element bildet?


— So ist es ohne Zweifel, mein Sohn. Doch musst du nicht auch zugeben, dass es schon eine gehõrige Portion Dummheit braucht, um derart masochistisch zu sein?