Claude Piron

Machen wir uns unsere Kultur wieder zu eigen


Ein Gespräch mit Claude Piron, Fachmann für internationale Kommunikation


Obwohl Kommunikation eines der am gründlichsten erforschten Gebiete der letzten Jahre ist, belasten dessen Probleme weiterhin viele Menschen, da man ohne zu sprechen nicht leben kann. Wir präsentieren hier ein Gespräch mit Claude Piron, Autor zahlreicher Aufsätze über Interlinguistik, Professor an der Fakultät für Psychologie und Pädagogik der Universität Genf, viele Jahre hindurch Übersetzer aus dem Englischen, Chinesischen, Spanischen und Rus-sischen bei der WHO und der UNO, zurzeit einer der bekanntesten Experten für internationale Kommunikation, Mitarbeiter des abruzzischen Vereins „Allarme Lingua“ (Sprachenalarm).


- Herr Professor, was meinen Sie als Psychologe zu der gegenwärtigen globalen Sprachen-ordnung?


- Ich meine, dass sie sehr beklagenswerte Züge der menschlichen Gesellschaft deutlich macht, zum Beispiel ihren Masochismus, ihre Neigung zu irrationalem Handeln, ihre lähmende Trägheit und ihre mangelnde Bereitschaft, sich der Wirklichkeit zu stellen.


- Warum sprechen Sie von Masochismus?


- Nun, unsere Gesellschaft wählte für die Kommunikation ausgerechnet eine der am wenig-sten für den internationalen Gebrauch geeigneten Sprachen, nämlich das Englische, mit dem selbst die Muttersprachler der angelsächsischen Länder Schwierigkeiten haben. Tatsächlich fand keine wirkliche Wahl statt, man gab einfach dem Druck der Trägheit nach. 95 Prozent der Menschheit akzeptieren resignierend eine sprachliche Unterordnung gegenüber den 5 Prozent der englischen Muttersprachler, die das normal finden, dass alle anderen die ganze Last, sich um eine funktionierende Kommunikation bemühen, auf sich nehmen. Sich bemühen und dabei mit anzusehen, wie ihre eigene Sprache immer mehr verfällt.


- Als Französischsprachiger dürften Sie sich ja eigentlich nicht beklagen. Schauen Sie, wir in Italien haben ein „Privacy“-Gesetz, ein Ministerium für „Welfare“, und unsere Abgeordneten nennen die Fragestunde im Parlament „question time“.


- Es ist äußerst demütigend, dass ausgerechnet von den Politikern dieser Drang zum Sprach-verfall ausgeht. Es geht hier übrigens nicht um einen Ruf nach nationalen Werten, sondern schlicht um den guten Geschmack. Überall macht sich jedoch Trägheit breit und niemand bemüht sich um eine Einsicht in die Realität.


- Aber die Realität ist doch gerade die Vorherrschaft des Englischen, Wirklichkeit ist das, was unsere Zeitungen „The great English divide“ nennen, die große Spaltung zwischen denen, die Englisch können und den neuen Barbaren, die sich verzweifelt bemühen, auf deren Seite zu gelangen. Was meinen Sie also damit, wenn Sie sagen, dass die Gesellschaft sich nicht der Realität stellen will?


- Man sagt: Englisch ist Fakt, kein Problem! Aber das ist nicht wahr! Das jetzige System fordert Massen von Opfern. Es gibt kein Mitleid mit dem ausländischen Arbeiter, der von der Polizei ungerecht behandelt wird, weil er sich nicht verständlich machen kann; mit dem Leiter eines mittelständischen Unternehmens, dem ein Vertrag mit einer ausländischen Firma platzt, weil seine Englisch-Kenntnisse nicht subtil genug waren; mit einem Touristen, der wegen irgendwelcher furchtbaren Schmerzen im Bauch Angst hat, weil er nicht erklären kann, was ihm fehlt, usw. Aber anstatt sie als Opfer zu sehen, hält die Gesellschaft sie für selbst schuld, weil sie es nicht schaffen, sich verständlich zu machen. Als ob das für alle so einfach sei! Es gibt Millionen und Abermillionen Jugendliche in der ganzen Welt, die sich seit vielen Jahren vergeblich abmühen, Englisch zu meistern. Was für eine ungeheure Verschwendung an nervlicher und geistiger Energie! Um so absurder, als die Faktoren, die das Englische so schwer beherrschbar machen, überhaupt nichts mit den Erfordernissen von Kommunikation zu tun haben, sondern von sprachlichen Marotten der Vorfahren der britischen Bevölkerung herrühren. Der Präsident von Nissan, Carlos Ghosn, sagte einmal: „Englisch ist nur ein Werkzeug, ein Computerprogrammpaket.“ Richtig.


Eine Sprache ist in vieler Hinsicht mit einem Computerprogramm vergleichbar. Wenn man aber die Wahl hat zwischen zwei Programmpaketen, von denen man das erste auch nach sieben Jahren noch nicht vollständig beherrscht, in dem zweiten sich aber schon nach einem Jahr zu Hause fühlt - bei der selben Anzahl von wöchentlichen Übungsstunden, wer wird dann das erste Programmpaket wählen, wenn sich außerdem herausstellt, dass das schneller erlernte auch noch besser funktioniert? Genau das ist aber die Situation, wenn man Englisch mit Esperanto vergleicht. Das heißt also, dass die Gesellschaft mit der Wahl des Englischen irrational gehandelt hat.


- Ist unsere Gesellschaft im Übrigen nicht einfach zu unbekümmert, was Sprachen betrifft?


- Ein weiterer Punkt, dem sich unsere Gesellschaft nicht stellen will, ist die Schwierigkeit von Sprachen. „Lernen Sie Englisch in drei Monaten“, „Russisch in 90 Lektionen“, „Französisch ohne Mühe“. Falsche Versprechen. In Europa schafft es durchschnittlich nur einer von hun-dert Jugendlichen, nach sechs Jahren Unterricht die gelernte Sprache fehlerlos zu sprechen. In Asien ist das Verhältnis eins zu tausend. Aber kein Bildungsministerium wagt es, der Tat-sache ins Auge zu sehen, dass unsere Sprachen zu schwierig sind, um in Kursen vollständig erlernt zu werden.


- Aber ist das nicht mit allen Sprachen so?


- Irgendwie schon, aber das ist kein Grund, sich der Suche nach einer wirklich optimalen Lösung zu verweigern. Das Englische stellt jedoch einen besonderen Fall dar. Denken Sie an den Buchstaben a. Nur in den Englisch sprechenden Ländern spricht man ihn nicht einfach und ohne Ausnahme als /a/ aus, sondern einmal /ej/ (case), dann zwischen /a/ und /æ/ (bad), dann als /a/ (father), dann als offenes /o/ (hall). Und so ist es auch auf anderen Sprachebenen. Betrachten wir beispielsweise den Wortschatz. Der Aufwand, sich tooth und dentist zu merken, ist im Englischen doppelt so groß wie bei den gleichen Wörtern in anderen Sprachen, in denen sich das eine Wort aus dem anderen ableitet. Bei Esperanto muss man nicht einmal im Wörterbuch nachschlagen. Nachdem man gelernt hat, dass man mit dem Suffix -ist- die Berufsbezeichnung kennzeichnet, kann man selbst dentisto ‚Zahnarzt' aus dento ‚Zahn' ableiten, so wie programisto ‚Programmierer' aus programi ‚programmieren', seruristo ‚Schlosser' aus seruro ‚Schloss' und parolisto ‚Sprecher' aus paroli ‚sprechen'.


- Sind Sie also dagegen, dass man in der Schule Fremdsprachen unterrichtet?


- Überhaupt nicht. Ich wende mich nur gegen die Illusion, dass Englisch das Verständigungs-problem in der Welt lösen könne und dass es als Kommunikationsmittel unter schulischen Bedingungen erlernbar sei. Ich schlage vor, dass man den Bürgern empfiehlt, Esperanto zu lernen, damit sie relativ schnell über eine angenehme Möglichkeit verfügen, sich mit Anderssprachigen zu verständigen; dass man in der Schule jedoch Sprachen nicht als Verständigungsmittel, sondern als kulturelle Bereicherung, als Weg zum Verstehen der Völker lernen sollte. Es ist absurd, dass zurzeit 90 Prozent der Schüler in weiterführenden Schulen erhebliche Mühe allein mit dem Lernen des Englischen aufwenden und alle anderen Kulturen, die sie durch einen Sprachkursus erreichen könnten, vernachlässigen. Das ist um so absurder als die Mehrheit nach all dieser Mühe dennoch nicht in der Lage ist, effektiv und gleichberechtigt auf weltweiter Ebene zu kommunizieren.


- Wenn Sie Recht haben, warum reden dann so wenige Menschen wie Sie?


- Weil viele emotionale Faktoren im unterbewussten Teil der Psyche das Problem verschleiern und irrationale Angst erzeugen. Sprache ist im Geist mit dem Identitätsgefühl verbunden. Die Menschen sehen nicht, dass sie ihre Identität besser durch eine Sprache, die wie Esperanto keinem Volk gehört, schützen können, als durch eine Sprache wie Englisch, die subtil, unbemerkt eine ganze Denkweise mit sich bringt, viele Assoziationen, viele Mythen, die nicht mit den kontinentaleuropäischen oder asiatischen traditionellen Denkweisen übereinstimmen.


- Könnte sich diese Situation Ihrer Meinung nach ändern?


- Vielleicht wird die Situation in der Europäischen Union mit neuen Mitgliedern und damit weiteren Sprachen zu einem neuen Studium dieser ganzen Problematik von Grund auf zwingen, aber vielleicht wird weiterhin der Mut fehlen, die grundlegenden Fragen zu stellen. Leider sind Menschen ja sehr konservativ. Die jetzige Sprach(un)ordnung zu ändern, erfordert eine Änderung der Denkweise, und so eine Änderung ist eine “psychisch aufwändige Angelegenheit”, sagt Janet.


- Einverstanden mit Esperanto in den Schulen, was wegen des propädeutischen Effektes auch für das Lernen anderer Sprachen nützlich ist, aber in den europäischen Instanzen spricht man nicht über Freundschaft, sondern über höchst komplizierte wirtschaftliche, juristische und technische Angelegenheiten. Die Kritik, die sich gegen Esperanto richtet, weil es künstlich ist oder weil es ihm angeblich an Kultur mangelt, mag ja für gewiefte Kenner der Problematik unsinnig sein. Aber könnten terminologische Unzulänglichkeiten im Licht Ihres Wissens über Kommunikation in internationalen Organisationen nicht eine ernsthafter Nachteil angesichts der komplexen Gebiete in der Europäischen Union sein?


- Über dieses Problem mit einer praktischen Seite spricht niemand, la weitaus größte Mehrheit beschränkt sich auf ihre gewöhnlichen Klischees. Sicher, das Problem existiert und ist nicht unwichtig. Aber es ist mit Mitteln der Sprachplanung, die man auch bei ethnischen Sprachen wie dem Estnischen einsetzt, lösbar. Damit hat man auch das Hebräische, welches seinerzeit nur 5000 Wörter hatte, bis zum jetzigen Status einer modernen Sprache wiederbelebt. Das Problem ist, die öffentliche Meinung und damit die Politiker zu sensitivieren, damit man die eigene Sprache besser respektiert und die internationale Sprachenfrage ernsthafter beachtet, indem man das Konzept sprachlicher Demokratie verbreitet und - besonders im angel-sächsischen Teil der Welt - eine neue Kultur des Rechts auf Verstehen und dem Zwang zum Sich-Verständigen. Ich hoffe, dass die Zahl derjenigen Menschen stetig steigt, die sich der zu verteidigenden kulturellen Werte bewusst sind und reagieren, bevor diese für immer gefährdet sind. Aber dauernd von oben herab Esperanto zu verwerfen, ohne sich auch nur Einblick in die entsprechenden Unterlagen verschafft zu haben, ist zu absurd, um sich damit abzufinden.


Giorgio Bronzetti
Koordinator des Vereins "Allarme Lingua"


Der Artikel erschien am 1. September 2006 mit Titel und einer Einführung durch die Redaktion in “Abruzzi Oggi”, einer Tageszeitung in der italienischen Region Abruzzen. Der Originaltitel lautete: "Die neue globale Sprachenordnung."