Claude Piron

Was ist Legende, was Wirklichkeit


Sie erzählten mir, als ich klein war: "Scheue dich nicht, nach dem Weg zu fragen. Nutze deine Sprache und du kommst bis ans Ende der Welt."

Aber schon ein paar Meilen weiter sprachen die Leute eine andere Sprache. Sie irgendetwas zu fragen, war sinnlos und zum Verrücktwerden.


Sie erzählten mir: "Wenn du mit Fremden diskutieren willst, lerne Sprachen in der Schule."

Aber 90% der Erwachsenen können sich nicht angemessen in der Sprache ausdrücken, die sie als Schüler wählten.


Sie erzählten mir: "Mit Englisch kommst du überall in der Welt aus." Aber in einem spanischen Dorf sah ich einen Unfall, bei dem ein französisches und ein schwedisches Auto beteiligt waren. Weder miteinander noch mit der Polizei konnten sich die Fahrer verständigen.

In einer kleinen Stadt in Thailand sah ich, wie ein Tourist unter Todesqualen versuchte, seine Symptome einem örtlichen Arzt zu beschreiben. Er mühte sich vergebens ab.

Ich habe für die Vereinten Nationen und die Weltgesundheitsorganisation auf allen bewohnten Kontinenten und auf einigen Inseln gearbeitet, und ich stellte im Kongo, in Polen, in Japan und an vielen anderen Orten fest, daß Englisch außerhalb der Haupthotels, großer Läden, Geschäftskreise und Flughäfen nichts nützt.


Sie erzählten mir: "Dank der Übersetzungen sind jetzt auch die entferntesten Kulturen für alle zugänglich."

Aber als ich Übersetzungen mit den Originalen verglich, sah ich so viele Verzerrungen, so viele Auslassungen, so wenig Achtung vor dem Stil des Autors, daß ich mich gezwungen sah, die italienische Redensart Traduttore, traditore - ‘Übersetzer sind Verräter’ - zu bestätigen.


Sie erzählten mir, daß der Westen die Dritte Welt mit dem nötigen Respekt für die örtlichen Kulturen unterstützt.

Aber ich sah, daß er keine Wertschätzung für die sprachliche Würde hat, er stülpt ihr seine Sprachen von Anfang an über, und betrachtet es als selbstverständlich, daß diese die besten Kommunikationsmittel sind.

Ich sah, wie der kulturelle Druck, der mit Englisch oder Französich verbunden ist, die Mentalitäten änderte und seine zerstörerischen Auswirkungen auf uralte Kulturen ausübte, wobei deren positive Werte gnadenlos ignoriert wurden.

Und ich sah die zahllosen Probleme, die bei der Ausbildung der Leute vor Ort auftraten, weil westliche Techniker die lokalen Sprachen nicht kannten und es in diesen Sprachen keine Lehrbücher gibt.


Sie erzählten mir: "Erziehung für alle wird die Chancengleichheit für die Kinder aller Klassen garantieren."

Und ich sah, wie reiche Familien in der entwickelten Welt ihre Kinder nach England und in die USA schickten, um Englisch zu beherrschen, während die Massen, gefangen in ihren eigenen Sprachen, allen Arten von Propaganda unterworfen, nur eine trostlose Zukunft vor Augen, durch die Sprache in der untergeordneten Position gehalten werden, in der sie sich befinden.


Sie erzählten mir: "Esperanto hat kläglich versagt."

In einem europäischen Bergdorf jedoch sah ich, wie Bauernkinder mit japanischen Besuchern nach einem nur sechsmonatigen Esperantokurs munter miteinander plauderten.


Sie erzählten mir: "Esperanto mangelt es an menschlichen Werten."

Ich lernte die Sprache, ich las ihre Poesie, ich lauschte ihrem Gesang. In jener Sprache f&uumlhrte ich vertrauliche Gespräche mit Brasilianern, Chinesen, Iranern, Polen und einem jungen Mann aus Usbekistan.

Und hier stehe ich - ein ehemaliger Übersetzer - und schulde es der Ehrlichkeit zu sagen, daß jene Gespräche die spontansten und tiefschürfendsten waren, die ich jemals in einer Fremdsprache führte.


Sie erzählten mir: "Esperanto ist wertlos, weil es keine Kultur hat."

Und doch: als ich Esperantosprecher in Osteuropa, Asien, Lateinamerika traf, waren die meisten kultivierter als ihre Mitmenschen derselben gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schicht. Und als ich an internationalen Debatten in jener Sprache teilnahm, war ich wirklich beeindruckt vom intellektuellen Niveau.

Ich versuchte, dies allen um mich herum zu erklären.


Ich sagte: "Komm! Sieh selbst! Hier gibt es etwas Außergewöhnliches! Eine Sprache, die das Kommunikationsproblem zwischen den Völkern der Welt löst!

Ich sah einen Ungarn und einen Koreaner in jener Sprache über Politik und Philosophie diskutieren, nur zwei Jahre, nachdem sie angefangen hatten, die Sprache zu lernen. Das ist in jeder anderen Sprache unmöglich. Und ich sah dies, und das, und noch jenes…"


Aber sie erzählten mir: "Esperanto ist nichts Ernsthaftes. Und außerdem ist es künstlich."


Ich begreife es nicht. Wenn das Herz eines Mannes oder einer Frau, ihre Gefühle, die feinsten Nuancen ihrer Gedanken sich direkt vom Mund zum Ohr in einer Sprache ausdrücken lassen, die in der Reichhaltigkeit interkultureller Kommunikation geboren wurde, sagen sie mir: "Sie ist künstlich."


Aber was sehe ich, wenn ich durch die Welt ziehe? Ich sehe Reisende, die sich danach sehnen, Ideen und Erfahrungen - oder auch nur Rezepte - mit Leuten vor Ort auszutauschen, und traurig aufgeben.

Ich sehe den Austausch von Gesten, die zu grotesken Mißverständnissen führen.

Ich sehe informationshungrige Menschen, die durch die Sprache daran gehindert werden zu lesen, was sie wollen.


Ich sehe Menschenmassen, die sich nach sechs oder sieben Jahren Sprachenlernens noch abmühen, unfähig, das passende Wort zu finden, einen lächerlichen Akzent haben, und nicht das ausdrücken können, was sie wollen.

Ich sehe Sprachungleichheit und -diskriminierung sich in der ganzen Welt ausbreiten.

Ich sehe Diplomaten und Spezialisten, die in Mikrofone sprechen und durch Kopfhörer eine andere Stimme hören als die ihrer Partner.

Ist das "natürliche Kommunikation"? Vom Herz oder Hirn über den Mund zum Ohr, das ist künstlich, selbstverständlich, aber vom Mikrofon durch eine Übersetzerkabine zum Kopfhörer, das ist offensichtlich natürlich!

Gehört die Kunst, Probleme mit Intelligenz und Verstand zu lösen, nicht mehr zur menschlichen Natur?


Sie erzählten mir viel, aber ich sehe es anders. So wandere ich verwirrt durch diese Gesellschaft, die für jeden das Recht auf Kommunikation fordert. Und ich frage mich, ob sie mich täuschen, oder ob ich nur einfach verrückt bin.