Claude Piron

Sprachen, Gehirn und öffentliche Gesundheit
oder das Drama der umweltbezogenen Aphasie


Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Eine seiner bemerkenswertesten Eigenschaften ist die Fähigkeit zum Dialog, sich mit Mitmenschen klar zu verständigen, was ihn von Tieren unterscheidet. Für den sprachlichen Ausdruck befähigt, kann er sich verständlich machen und verstehen, was man ihm sagt.


Dennoch kommt es im heutigen Leben häufig vor, dass an sich normale und gesunde Menschen sich nicht ungehindert äussern können. Obschon ihre Nervenzellen funktionieren und das Denken klar und genau ist, stösst der sprachliche Ausdruck an ein Unvermögen oder eine Behinderung, welche die Verständigung erschwert. Es zeigen sich typische Anzeichen von Aphasie. Wie alle Aphasiebehinderten versuchen sie, das Sprechunvermögen durch Gesten, Gesichtsausdrücke und unverständliche Satzbrocken auszugleichen, was den Angesprochenen verwirrt. Eine solche Aphasie ist eine weit verbreitete Krankheit oder Seuche, Pandemie genannt, welche überall in der Welt auftritt, sobald die Kontakte den lokalen oder nationalen Bereich überschreiten.


Vielleicht interessiert es, dem Dialog des Vaters mit seinem 15-jährigen Sohn zu folgen, die soeben einen Koreaner und einen Tschechen beim Versuch beobachteten, Gedanken in einem Allerwelts-Pseudo-Englisch auszutauschen.


„Wie sich dieser arme Kerl anstrengte! Er tat mir leid, wie er stammelte, im Kopf immer wieder nach Worten suchte, ständig anhielt, verzweifelt gestikulierte. Es schien als wäre er krank!“


„Er ist es.“


„Du übertreibst, das weisst du nicht ... Und dann, wenn er krank wäre, welches wäre seine Krankheit?“


„Das nennt sich Aphasie, d.h. Sprachlosigkeit, Wortlosigkeit. Sie kann sehr beängstigen. Man weiss genau, was man sagen will, aber die Sätze kommen nicht, der Mund kann selbst den einfachsten Gedanken nicht in Worte fassen, auch wenn er schön im Bildschirm des Gehirns steht. Man fühlt sich dumm, und wenn man etwas sucht, fällt es nicht ein oder nur am Ende einer äusserst mühvollen Gehirnakrobatik.“


„Was verursacht diese Krankheit?“


„Wenn es sich um eine somatische, d.h. körperliche Krankheit handelt, liegt der Grund in einem Hirnschaden: ein Blutgefäss, das zerstört ist, oder ein Tumor, der auf die Nervenzellen drückt oder etwas Ähnliches. Es gibt auch eine geistesbedingte Aphasie, zurückzuführen auf ein psychisches Trauma, zum Beispiel ein Kind, das wegen eines sexuellen Übergriffs nicht mehr sprechen kann. Aber meistens, wie im hier erwähnten Fall, ist die Ursache weder physisch noch psychisch, sondern es liegt eine umweltbezogene Aphasie vor. Der koreanische Mann, der Mitleid erweckte, hat offenbar ein gut arbeitendes Gehirn, aber er wählte keine taugliche Methode, um die Krankheit zu vermeiden. Er versuchte sich mit einer Person zu verständigen, die unter der gleichen Krankheit leidet und ebenfalls ein unangemessenes Vorgehen wählte. So konnten sie sich nicht verständigen.“


„Was für Behandlungsmethoden gibt es?“


„Alle gehören zur Gruppe der Heilgymnastik, wie Gehirntraining. Es ist vergleichbar mit dem Programmieren eines Computers. Man gibt dem Kopf viele Programme und Daten ein. Wenn alles Nötige in den Gehirncomputer eingegeben ist, kann man gut ein Gespräch führen. Jeder von uns hat dies unbewusst gemacht, vom Alter von 16 - 18 Monaten an. Der Vorgang nannte sich damals „sprechen lernen“. Das gesundheitliche Problem ist weltweit darauf zurückzuführen, dass die Programmierung aus sehr vielschichtigen Gründen je nach Ort unterschiedlich ausfällt. Es besteht kein gemeinsames Programm. Die Lösung des Problems liegt darin, ein zweckmässiges Programm für alle zu finden.“


„Und gelingt das?“


„Die meisten Leute haben keine Gelegenheit, Vorteile daraus zu ziehen. Sie können mit Anderssprachigen keine genauen Gedanken austauschen. Wenn sie sich verständigen wollen, versuchen sie es mit den Augen, einem Lächeln oder mit Gesten. Das erlaubt nicht, viel auszudrücken. Unter jenen, die eine Umschulung zur Verbesserung des Zustandes versucht haben, und es sind deren viele, hat die Aphasie zu einer masochistischen Behandlung geführt, weil der Staat sie ihnen in ihrem Land aufdrängt oder weil sie durch Modetrends, Werbetexte und Fehlinformationen irregeleitet werden.“


„Worin besteht diese masochistische Behandlung?“


„Es ist eine Unterweisung, die während der Schulzeit klassenweise erfolgt. Sie erstreckt sich über fünf bis zehn Jahre je nach Land, und beinhaltet je nach Ort drei, vier oder fünf Stunden pro Woche während des Schuljahres. Das ergibt also ungefähr 600 bis 2000 Stunden mentale Lernarbeit. Mit diesem Unterricht erreicht man aber nur eine gewisse Verbesserung des Zustandes. Ein wirklich gutes Ergebnis würde mindesten 8000 Stunden erfordern.“


„Warum nennst du diese Methode masochistisch? Masochismus bedeutet doch, dass man Schmerzen ertragen will, nicht wahr?“


„Ja, auch wenn kein körperlicher Schmerz damit verbunden ist, wählt man doch ein Vorgehen, das mühevoll und schwierig ist und dazu viel kostet, während es eine einfache und rasche Lösung gibt. Warum ist dieses Vorgehen masochistisch? Eben weil diese hohe Stundenzahl überhaupt nicht nötig ist. 90% der Bemühungen, welche dieses Verfahren aufdrängt, nützen nichts, um sich von der Aphasie zu befreien. Sie sind vergeblich und erreichen das Ziel nicht.“


„Was erlaubt dir, das zu sagen?“


„Ein Vergleich mit einer anderen Therapie. In diesem Fall genügen 100 bis 250 Unterrichtsstunden, um das Ziel oder die Heilung zu erreichen. Menschen aus verschiedensten Ländern, die wir daheim empfangen haben - Mitsuko, Vladimir, Jon, Vojciech, Reza, Rosinha, Jiangyi, usw. - wählten das wirksame Verfahren. Bei ihnen gibt es keine Spur von Aphasie. Wir verständigten uns problemlos, genau wie wir beide unsere Muttersprache benützen, und lachten dabei oft hemmungslos.“


„Ja, ich verstehe. Was du als wirksames Verfahren betrachtest, ist Esperanto, nicht wahr? Mir hat man Esperanto beigebracht.“


„Dein Fall ist speziell, weil du nicht mit Verständigungsschwierigkeiten zu kämpfen hast. Du hattest das Glück mit uns zu sein, wenn uns Ausländer besuchten oder wenn wir in Finnland, Bulgarien, Italien Ferien machten, oder als die Familie in einem Wettbewerb eine Reise nach Brasilien gewann, wo wir nur Esperanto-Sprechenden begegneten.“


„Die masochistische Behandlung, ist damit Englisch gemeint?“


„Ja, und alle Arten anderer Sprachen.“


„Aber mir gefallen Sprachen sehr. Viele meiner Freunde sind dem Deutschen abgeneigt, aber ich lerne gerne Deutsch. Ich halte dafür, dass hier Deutsch die erste obligatorische Fremdsprache ist.“


„Es freut mich, das von dir zu hören. Es ist immer gut, eine Sprache zu erlernen, weil es das Verständnis erweitert, auch wenn man sie nie voll beherrschen kann.“


„Aber sage mir, warum mit Esperanto bessere Ergebnisse erzielt werden.“


„Weil es die Krankheit unterbindet, indem im Kopf einfache Programme gespeichert und damit die Wirksamkeit erhöht wird. Beispiel: Wie bildest du die Vergangenheitsform in Esperanto, wie sagst du „Er ist gekommen, er ist gefallen, er hat gesungen, er hat getrunken, er hat gedacht“? Musst du überlegen, dein Gedächtnis durchsuchen?“


„Natürlich nicht. Ich benütze jedes Mal die is-Endung: li venis, li falis, li kantis, li trinkis, li pensis.“


„Anders bei der masochistischen Methode: im Englischen musst du jedes Mal ungleiche Formen einprägen, die Vergangenheit von come 'veni' heisst came. Du kannst nicht selbst das richtige Wort ableiten, auch nicht erraten, du musst es lernen. Und es ist gleich für alle Verben, die wir soeben erwähnten: fall / fell, sing / sung, drink / drank, think / thought. Mit andern Worten: um im Englischen etwas zu erzählen, was vorher geschah, musstest du eine lange Reihe von unregelmässigen Formen einprägen, während in Esperanto einfach die Endung angehängt wird, die man in einer Sekunde abruft und nicht vergisst. Und es ist gleich für die Bildung unzähliger Wörter.“


„Auch im Deutschen ist es ähnlich. Man muss Hunderte von Unregelmässigkeiten erlernen, die Esperanto nicht kennt, die sogenannten starken Verben, die Reihenfolge der Wörter in Sätzen, die Mehrzahl und viele andere Formen. Da stellt sich doch die Frage, warum zum Teufel wählen die Menschen nicht Esperanto, wenn doch die Vorteile auf der Hand liegen.“


„Weil man sie nicht über die Unterschiede der verschiedenen Verfahren aufklärt. Folglich kann man die Menschheit in zwei Gruppen einteilen: Es gibt eine kleine Randgruppe, die in einer Art Diaspora lebt und von der Aphasie befreit ist und die riesige Mehrheit, die darunter leidet. Dazu gehört der Mann, der sich mit Mühe und Not ausdrückte und sich trotzdem nicht verständigen konnte. Es war ein Koreaner, Erwachsener, mit Jacke und Krawatte, der sicher über etwa 2000 Stunden Englischunterricht verfügte, ohne die Berufspraxis einzubeziehen. Ein anderer Nachteil des masochistischen Verfahrens liegt darin, dass die Kenntnisse im vollgestopften Gedächtnis mit den Jahren in Vergessenheit geraten, wenn sie nicht angewandt werden. In einem System bleiben Beweglichkeit und Spannkraft nur erhalten, wenn sie laufend geübt werden.“


„Aber warum erklärt man das den Leuten nicht?“


„Ich weiss es nicht. Nicht weil ich dein Vater bin, kann ich alle Fragen beantworten. Was ich feststelle, ist dies: immer wenn einer das wirksame Verfahren vorschlägt, treten Menschen auf, die widerstehen und die Sache schlechtmachen und davon abraten. Schau mal im Netz! Dort hat es viele Treffpunkte, wo Menschen für das wirksame Verfahren eintreten, aber sie werden von Diskussionsteilnehmern nicht ernst genommen, ja sogar angegriffen. Einige lassen nur das masochistische System gelten und wollen nichts anderes hören.“


„Wie ist diese Ablehnung zu erklären? Es ist doch sonderbar, denn unser Verfahren hat sich bewährt.“


„Ich verstehe das auch nicht. Die Leute stützen sich nicht auf Tatsachen, sie vergleichen nicht, sie nehmen nicht zur Kenntnis, wie unser System arbeitet. Nicht Fakten und Ergebnisse, nur subjektive Meinungen bringen sie vor: „Es ist absurd, es ist eine Utopie, Esperanto ist nicht ernst zu nehmen“. Oder sie reden von der Zukunft, die sie zu kennen scheinen: „Das wird nie gelingen, das ist nicht realistisch“, usw.“


„Aber warum verhalten sie sich so?“


„Wie soll ich das wissen! Ich versuchte zu ergründen, aber konnte es nicht. Wahrscheinlich wissen es die Leute auch nicht. Es sieht so aus, als handelten sie aus Angst, aber was befürchten sie? Haben sie Angst Menschen zu sein, die das Gehirn kreativ nutzen, das von je her für den Dialog programmiert war. Es gibt Kinder, die Angst haben erwachsen zu werden, auf Spielzeuge zu verzichten, Verantwortung Erwachsener zu übernehmen. Einerseits wollen sie erwachsen werden, anderseits ziehen sie sich in die Kindheit zurück. Vielleicht ist etwas Ähnliches im Spiel. Du hast Recht: sich so zu verhalten, ist nicht normal. Warum verhindern die Leute die Ausbreitung dieser Methode, die von der umfeldbezogenen Aphasie befreit? Es gibt Grund anzunehmen, dass der Widerstand gegen die Verbesserung des Zustandes eine Auswirkung der Pandemie ist.“


„Was ist Pandemie?“


„Es ist ein Fachwort der öffentlichen Gesundheit. Man spricht von Epidemie, wenn eine Krankheit sich in einem Teil der Bevölkerung rasch ausbreitet, und von Pandemie, wenn sie fast alle erfasst. In unserem Fall handelt es sich um eine geistige Krankheit, weil sie das fliessende Sprechen hemmt, das Hirn aber perfekt arbeitet. Bei geistigen Krankheiten lässt die Besserung in der Regel auf sich warten.“


„Aber du, der in öffentlichen Gesundheitsdiensten gearbeitet hat, konntest nichts bewirken?“


„Nein, die Behörden sind auch voreingenommen. Das ist der Unterschied zwischen Epidemie und Pandemie. Bei der Pandemie machen die gesunden Personen einen so winzigen Teil aus, dass ihr Einfluss gleich null ist. Der Koreaner und der Tscheche, von denen die Rede war, bemühten sich sehr, sich von der Aphasie zu befreien, aber diese Anstrengungen genügten nicht, um sich zu verständigen. Das Unvermögen zeigte sich auch bei den Behörden der beiden Länder, so dass sie eine untaugliche Methode wählten. Das Gleiche geschieht weltweit: die Herrschenden weigern sich, die verschiedenen Verfahren zu vergleichen, als ob Vergleichen unzweckmässig wäre, um herauszufinden, was am wirksamsten ist.“


„Läuft es immer so ab in der öffentlichen Gesundheit?“


„Nein. Als man die Pocken bekämpfte, machte man Pilotversuche. Man führte in bestimmten Bevölkerungsgruppen verschiedene Methoden durch, um sie zu testen, die Vorteile festzustellen und die Risiken zu beurteilen. Nach zwölf Jahren waren die Pocken endgültig besiegt. Man könnte die umfeldbezogene Aphasie in kürzerer Zeit ausrotten, sogar ohne Pilotversuche. Eine Vielzahl von Menschen in 120 Ländern hat die Behandlung mit Esperanto erfahren. Man verfügt also über reiche Erfahrung, länger als ein Jahrhundert, und über Tonnen von Dokumenten. Mit andern Worten: es sind alle notwendigen Erkenntnisse vorhanden. Die Menschheit ist sonderbar! Oft steht sie sich selbst vor dem Glück. Ausserdem gibt es Kreise, welche die Anwendung der zweckmässigen Methode mit allen Mitteln verhindern und die Menschen in ihrer Wortlosigkeit belassen - einfach aus Rechthaberei. Schau mal im Netz! Du bist noch zu jung um das wahrzunehmen, aber die verschiedenen Formen geistiger Verblendung sind weit verbreitet.“


„Oft widersetze ich mich euch Eltern und übe Kritik, auch wenn ich nicht alles sage, was durch meinen Kopf geht, aber was die Aphasie anbelangt, bin ich froh, dass mir diese Sprachlosigkeit durch das, was ich als Kind erfahren durfte, erspart geblieben ist. Stell dir vor, sonst würde ich Lydia nicht kennen und könnte nicht mit ihr schwatzen. Schon beim Gedanken daran bekomme ich Bauchweh.“