Claude Piron

Ist Esperanto eine westliche Sprache?


Wenn man Esperanto so von außen betrachtet, verführt es einen schon leicht zu denken, dass es eine westliche Sprache ist. Ihre Aussprache erinnert irgendwie an den Klang von Italienisch und ihr Wortschatz ist weitestgehend romanisch angehaucht. Wenn man die Möglichkeit hat, ein Gespräch in dieser Sprache zu belauschen, bemerkt man bald, dass einem aber auch viele Wörter aus anderen Sprachen bekannt vorkommen, zum Beispiel hört man öfter das englsche yes, das auch dieselbe Bedeutung zu haben scheint (obwohl es auf Esperanto anders geschrieben wird, nämlich jes). Das alles lässt einen leicht denken, dass Esperanto im Grunde eine westliche Sprache ist. Wenn man aber noch genauer hinhört, erkennt man aber noch andere Wörter germanischen Ursprungs. Alles in allem erhält man den Eindruck, dass Esperanto eine Art Mischmasch aus verschiedenen westeuropäischen Sprachen darstellt, besonders aus den romanischen und germanischen, die Sprache aber auf jeden Fall ›westlich‹ sein muss.


Hat man aber Griechisch studiert, wird einem die Sprache aber gleich etwas weiter östlich vorkommen. ›Und‹ etwa heißt auf Esperanto kaj, eine genaue Entsprechung des altgriechischen και, und gleicher Maßen scheinen auch die Plurale von der Sprache Homers inspiriert zu sein. Das altgriechische Wort für ›Parallele‹, παράλληλος ist zum Beispiel im Plural, ›Parallelen‹ παράλληλοι, der Plural des entsprechenden Wortes paralelo lautet im Esperanto paraleloj, eine fast gleiche Enstprechung des altgriechischen Ahnen.


Betrachtet man sich dann noch einen Text auf Esperanto, verschiebt sich die Auffassung noch etwas weiter Richtung Sonnenaufgang. Es gibt zum Beispiel Buchstaben mit kleinen Häkchen drüber (zB. ĉ oder ŝ), Buchstabenkombinationen wie oj oder aj an Wortenden oder kv an anderen Stellen, die einen doch mehr an Slowenisch oder Kroatisch erïnnern. Wenn man jetzt noch einen slawischen Anteil an der Sprache vermutet, ist man auf der richtigen Fährte. Esperanto kommt aus Osteuropa (d.h. es wurde dort erfunden). Ihre Syntax, viele ihrer grammatischen Merkmale, eine Anzahl Phrasen und der Stil sind auch heute noch typisch slawische Zutaten. Dies gilt auch für die Semantik. Das Wort plena, ›voll‹ etwa stammt aus den romanischen Sprachen, ist aber keineswegs auf die eng gefassten Bedeutungen des französischen plein oder des portugiesischen pleno beschränkt. Vielmehr umfasst es das Bedeutungsfeld des russischen полный, das von der selben indoeuropäischen Wurzel *pln stammt. In keiner romanischen Sprache könnte man so etwas wie plein dictionnaire oder pleno dicionario sagen (übersetzt etwa ›volles Wörterbuch‹), sondern würde Wörter wie complet oder completo benutzen und es hinter das Nomen stellen. Plena vortaro (Esperanto) hingegen ist eine genaue Entsprechung des russischen полны словар, sogar in der Form, wie das Wort für ›Wörterbuch‹ sich im Russischen zusammensetzt (слово, ›Wort‹; словар ›Wörterbuch‹): vorto, vortaro.


Hat Esperanto nun auch etwas gemein mit den semitischen Sprachen? Der Form nach: nein, aber dem Sinn nach. Wie im Arabischen oder Hebräischen entspringt ein Großteil des Wortschatzes durch Zusammenfügung mehrerer konstanter Wortstämme. Zwar bestehen diese Stämme in den semitischen Sprachen zumeist aus drei Konsonanten und ihre Formen aus den Einfügungen verschiedener Vokale, wohingegen im Esperanto der Stamm unveränderlich ist und die Formen aus dem Vor- oder Anhängen anderer Stämme gebildet wird. Dennoch laufen die Bildungen der Worte in der Esperantofassung des Alten Testaments weitestgehend parallel zu denen des hebräischen Originals, was auch eine gewisse Exaktheit der Übersetzung beinhaltet, im Gegensatz zu denen der meisten westlichen Sprachen, in denen ganz andere Worte und Formulierungen benutzt werden müssen und so den originalen Text weniger durchscheinen lassen als die Esperantoübersetzung.


Wir begeben uns weiter in Richtung Osten, vom Arabischen ins Persische, verlassen eine Sprache mit einer komplizierten Grammatik und vielen Ausnahmen und kommen zu einer bemerkenswert konsistenten Sprache. Um etwa den Plural zu bilden, muss man im Arabischen oft das ganze Innere eines Wortes umstellen: kitab (Buch) wird zu kutub (Bücher). Das Persische, das viele Wörter aus dem Arabischen übernommen hat, hat diese komplizierten Plural mittlerweile aufgegeben. Um auf Persisch die Mehrzahl auszudrücken, verwendet man die Endung -ha, sodass der Plural von kitab nicht extra gemerkt werden muss, er ist ganz einfach kithaba. Esperanto ist von einer ähnlichen Einfachheit. Man braucht nur einen Bruchteil einer Sekunde um zu wissen, wie der Plural eines Wortes lautet, wenn man sich erst einmal gemerkt hat, dass man einfach ein -j anhängen muss. Was für ein Unterschied zu Deutsch, Haussa oder Arabisch, in denen man praktisch dazu gezwungen ist, zu beinah jedem Wort einen eigenen Plural dazu zu lernen. Sogar im recht konsistenten Englisch gibt es immer noch Ausnahmen: woman, child, foot, mouse, sheep und viele andere folgen nicht der generellen Regel des angehängten -s für die Mehrzahl.


Die meisten Sprecher westlicher Sprachen können sich gar nicht vorstellen, dass einige Sprachen so konsistent sein können, dass in ihnen unregelmäßige Verben, Ausnahmen in den Pluralformen oder unklare Derivation ihren Sprechern als ein Ding der Unmöglichkeit vorkommen, und halten es für eine irrige Erfindung einer Gruppe von Neurotikern. Umso schöner aber ist es, ohne all diese Unregelmäßigkeiten auskommen zu dürfen und trotzdem jemanden perfekt zu verstehen. Ein paar dieser Sprachen sind Chinesisch, Vietnamesisch und — Esperanto. Diese drei Sprachen haben eine Gemeinsamkeit, die sie von den meisten anderen unterscheidet, besonders von den indoeuropäischen: Sie setzen sich zusammen aus strikt unveränderbaren Elementen, die miteinander ohne Beschränkung kombinirt werden können. Für einen Sprecher dieser Sprachen scheint es vollkommen unlogisch, dass man ›erste‹ nicht von ›eins‹ ableiten kann, genauso wie ›zehnte‹ von ›zehn‹, und ihnen ist es gänzlich unverständlich, dass es kein konsequentes Muster bei der Ableitung von Pronomen gibt, sodass man neben ›ich‹ auch eine ganze Reihe zusätzlicher Wörter wie ›mir‹, ›mich‹, ›mein‹ lernen muss. Im Chinesischen sind diese alle eine Ableitung von ›ich‹: ›ich‹, wŏde ›mein, meins‹ (vergleiche auch wŏmen ›wir‹ und wŏmende ›unser‹).


Esperanto leitet die enstprechenden Worte in der selben Weise ab. Als Folge werden parallele Vorgänge in beiden Sprachen in paralleler Form ausgedrückt, was von keiner anderen westlichen Sprache behaupten werden kann. In dem Satz ›er nimmt deins, du nimmst seins‹ erscheint die Gegenseitigkeit der Handlung sowohl im Chinesischen (tā ná nĭde, nĭ ná tāde) als auch im Esperanto (li prenas vian, vi prenas lian). Im Englischen hingegen (he takes yours, you take his), obschon die Symmetrie des Ausgedrückten offensichtlich ist, kann man weder yours von you noch his von he ableiten, man muss alle diese Worte als einzelne Ausdrücke lernen, und ebenso, dass es in einem Teil des Satzes take heißen muss und in einem anderen takes. Die Einheiten und Details, die man sich einprägen muss, um sich verständlich auszudrücken, sind, wie man sieht, in westlichen Sprachen sehr viel zahlreicher als im Chinesischen oder Esperanto.


Auch in der Begriffszusammensetzung haben Chinesisch und Esperanto einige Gemeinsamkeiten. Im Englischen, Französischen und nicht zuletzt auch im Deutschen muss man Worte wie ›Mitbürger‹ und ›Glaubensbruder‹ einzeln lernen und hat dennoch keine Möglichkeit, in einem Wort das Konzept für ›Person derselben Rasse‹ oder ›jemand, der die gleiche Sprache spricht‹ auszudrücken. Im Chinesischen braucht man dafür nur die Struktur und die Basisworte zu kennen. Und in Esperanto klappt es genauso: um Worte wie samlandano ›Mitbürger‹, samreligiano ›Glaubensbruder‹, samklasano ›Klassenkamerad‹, samrasano ›Person der selben Rasse‹, samlingvano ›jemand, der die selbe Sprache spricht‹, muss man nur das Muster sam---ano zu kennen und die entsprechende Wurzel einzufügen. Ein Chinese, der Englisch, Französisch oder Italienisch lernt, muss sich ein komplett neues Worter für den Ausdruck ›Ausländer‹ einprägen (foreigner, étranger, straniero). Lernt er jedoch Esperanto, braucht er nichts weiter zu tun, als Silbe für Silbe (oder Morphem fyr Morphem, um es sprachwissenschaftlich auszudrücken) der drei Elemente des Wortes für sich aus seiner Muttersprache zu übersetzen: wàiguórén, ›Ausländer‹ ist zusammengesetzt aus wài ›außen‹ (Esperanto: ekster), guó ›Land‹ (Esperanto: land) und rén ›Mensch‹ (entsprechend hier dem Esperanto ano, eine Person, die unter anderem zu etwas gehört, Mitglied von etwas oder Bewohner von etwas ist). ›Ausländer‹ heißt auf Esperanto eksterlandano.


Noch ein Beispiel. Ein Chinese, der versucht, eine westliche Sprache zu erlernen und über Tiere zu sprechen wünscht, muss eine ganze Serie unterschiedlicher Wörter lernen, die in seiner Muttersprache nach regelmäßigen Mustern gebildet werden. Das Wort ›Pferd‹ gelernt zu haben reicht beiweitem nicht aus, um zu wissen, was ›Hengst‹, ›Stute‹ und ›Fohlen‹ bedeuten, und das Wort ›Rind‹ hilft ihm yberhaupt nichts, wenn er ›Bulle‹, ›Kuh‹ oder ›Kalb‹ sagen will (ganz zu schweigen von ›Stier‹, ›Ochse‹ oder dem englischen beef etc.). Im Chinesischen werden diese Worte mit System gebildet. Sie lauten: , mŭmă, xiăomă und xióngmă (bei der Pferdefamilie) und niú, mŭniú, xiăoniú und xióngniú (bei der Rinderfamilie). Das System ist genauso klar wie im Esperanto. Die Beziehung zwischen ĉevalo (das ĉ spricht man ›tsch‹) und ĉevalino, ĉevalido, virĉevalo einerseits ist genauso klar wie die zwischen bovo und bovino, bovido, virbovo andererseits.


Diejenigen, die Esperanto als zu westlich kritisieren, übersehen zwei wichtige Aspekte in dieser Frage. Zum einen verweigern sie sich einer linguistischen Analyse dieser Sprache, die jedoch der einizge Weg ist, zu erkennen, in was für einem anderen Licht sie in ihr erscheint, als wenn man sie nur von außen betrachtet: Ihr Urteil ist einfach nur oberflächlich und vorschnell. Zweitens ignorieren sie die Tatsache, dass letzten Endes eine gemeinsame Sprache von Nöten ist, wenn zwei oder mehr Menschen verschiedener Muttersprachen miteinander sprachlich kommunizieren müssen. Auf welche Sprache fällt man denn in dieser Situationen zurück, wenn nicht Esperanto? Doch auf das Englische. Und ist dies keine westliche Sprache? Und alles in allem hat das Englische noch viel mehr westliche Eigenarten als Esperanto und ist überdies für die Mehrheit auf diesem Planeten viel schwieriger zu lernen und zu gebrauchen. Keine einzige Sprache kann alle Menschen auf eine selbe Ebene bringen. Doch von allen, die es gibt und gebraucht werden, kommt Esperanto diesem Ideal am nächsten. Nach 2.000 Stunden Englisch (fünf Stunden in der Woche in zehn Schuljahren) sind Japaner und Chinesen im Durchschnitt immer noch unfähg, die Sprache in angebrachter Form anzuwenden. Diese Unsicherheit und die Schwierigkeiten, die sie haben, die adäquate Aussprache zu Stande zu bringen, behindert nicht nur die Kommunikation, sondern rückt sie darüber hinaus ins Licht der Lächerlichkeit, eine Beschämung, die dem native speaker ungerechter Weise erspart bleibt, und für die Kommunikation keinen Extraaufwand betreiben muss. Nach durchschnittlichen 220 Stunden Esperanto können Ostasiaten ohne weiteres in dieser Sprache kommunizieren, eine Sprache, die für jeden eine fremde ist, und in welcher daher das Risiko der Blamage gerecht verteilt ist.


Wer also fair und objektiv bleiben möchte, sollte aufhören, Esperanto zu kritisieren, noch bevor er sich mit einer sachgemäßen Betrachtung der Sprache und mit Vergleichen mit Englisch beschäftigt hat oder den Volkssprachen, dessen Interessen er vorgibt zu vertreten. In einer Demokratie gilt man als unschuldig, solange die Schuld nicht bewiesen worden ist. Folglich läge es in bester westlicher Tradition, dieses Prinzip auch auf Esperanto anzuwenden und ein Todesurteil zurück zu halten, bevor der Fall nicht ausgiebig untersucht wurde. Kein ernsthafter Linguist, Journalist oder Politiker würde es wagen, ein Urteil yber Tagalog oder Malayalam zu fällen, bevor er sich nicht die Fakten zu diesen Sprachen besehen hat. Und es gibt keinen Grund, Esperanto eine andere Haltung entgegen zu bringen.