Claude Piron

"Was denken Sie über die Mehrsprachigkeit in Europa?"

fragt Leonard Orban, EU-Kommissar für Mehrsprachigkeit


Danke, sehr geehrter Herr Kommissar, dass Sie die Europäer einladen, Ihnen Ihre Meinung mitzuteilen. Das ist ein sympathisches Zeichen des Respekts vor dem einfachen Bürger.


Das europäische Sprachenproblem ist gekennzeichnet durch ein Spannungsverhältnis zwischen zwei zunächst widersprüchlichen Bedürfnissen: dem Bedürfnis, effektiv zu kommunizieren und dem Bedürfnis, die Geleichheit und Identität eines jeden Bürgers zu respektieren. Die englische Sprache zu verwenden ist nicht demokratisch. Dies macht die große Mehrheit der Europäer zu Aphasikern. Beobachten Sie, wie zwei durchschnittliche dreißig- bis vierzigjährige Europäer mit unterschiedlicher Muttersprache kommunizieren, die beide in der Schule sechs bis sieben Jahre lang Englisch gelernt haben, und deren Muttersprache nicht germanischen Ursprungs ist. Sie werden alle Symptome der Aphasie erkennen: Sie sprechen in unvollständigen Sätzen, suchen ständig nach dem gewünschten Wort, müssen sich Wörter mehrmals wiederholen lassen, bis sie sie verstehen, können dieses oder jedes Phonem nicht aussprechen, usw. Wenn man die Zeit und geistige Arbeit bedenkt, die sie dem Sprachstudium gewidmet haben, ist dieses Ergebnis beklagenswert. Der Grund ist, dass das Englische den Erfordernissen interkultureller Kommunikation nicht angepasst ist. Dies beweist objektiv die Tatsache, dass eine nur ein Zehntel so große Investition sehr viel bessere Resultate zeitigt, wenn die Kommunikationssprache klüger und rationaler ausgewählt worden ist.


Der Gebrauch des Englischen ist nicht nur undemokratisch, sondern zeigt einen erschreckenden Mangel an Demokratiebewusstsein, auch in der Art und Weise, den Bürgern das Sprachenproblem darzustellen. Die Verantwortlichen, die Massenmedien, die intellektuelle Elite gibt sich einer gigantischen Täuschung hin, wahrscheinlich eher aus simpler Ignoranz denn aus Absicht, aber auf jeden Fall in verdammenswerter Ignoranz der Konsequenzen. Eine Täuschung wird gerne angenommen. Psychologisch ist es bequemer, sich selbst zu täuschen als der Realität die Stirn zu bieten, und die Versuchung ist niemals fern, das zu sehen, was wir zu sehen wünschen, und nicht die Tatsachen. Aber Täuschung bleibt Täuschung, was auch immer die Faktoren sein mögen, die zu ihr geführt haben. Und die Menschen zu täuschen ist undemokratisch.


1. Man macht die Nicht-Englischsprachigen glauben, dass es für jedermann möglich ist, das Englische gut zu beherrschen. Eine Täuschung. Diese Möglichkeit existiert nur für einen Teil der germanischsprachigen Bevölkerung, und für diejenigen, die vier oder fünf Jahre lang an englischen Universitäten studieren können. Aber auch danach bleibt weiterhin die Ungleichheit gegenüber den Englisch-Muttersprachlern bestehen.


2. Man macht die Öffentlichkeit glauben, dass der Schulunterricht zur Beherrschung der englischen Sprache führt. Die Mehrzahl der Jugendlichen glaubt in der Tat, dass sie nach Absolvierung des Englischunterrichts die Sprache gut beherrscht. Eine Täuschung. In einer Untersuchung mit 3700 Studenten in Hannover, die acht bis zehn Jahre lang Englischunterricht genossen hatten, zeigte sich, dass nur ein Prozent in die Kategorie „sehr gute Kenntnisse“ eingestuft werden konnte, und nur vier Prozent in die Kategorie „gute Kenntnisse“. Die Untersuchung zeigte auch, dass die meisten Jugendlichen sich sehr große Illusionen über ihr Sprachniveau machten. 34 Prozent hielten ihre Kenntnisse für „sehr gut“ und 38 Prozent für „gut“. Eine Selbsttäuschung. Besonders gegenüber sich selbst ist es immer schwierig, objektiv zu sein. Bedauerlicherweise wirken diese Selbsttäuschungen gegen die Demokratie, weil sie die anderen Täuschungen verstärken.


3. Man macht die Öffentlichkeit glauben, dass man nach Erlernen der englischen Sprache überall in der Welt kommunizieren könnte. Eine Täuschung. Auf dem europäischen Kontinent sind über 90 Prozent der Bevölkerung nicht in der Lage, eine einfache Probe alltäglich gebrauchter englischer Sprache zu verstehen. Versuchen Sie sich mit irgendeinem Menschen auf der Straße in Polen oder Frankreich auf englisch zu verständigen. Sie werden feststellen, dass man Sie getäuscht hat, was die allgemeine Verbreitung des Englischen angeht.


4. Man macht die Öffentlichkeit glauben, dass die Vorherrschaft des Englischen als einziger Weltsprache endgültig sei, dass es sich um etwas quasi Schicksalhaftes handle, und dass es vor diesem Hintergrund absurd sei, eine Änderung dieses Systems vorzuschlagen, selbst auch nach relativ langer Übergangszeit. Die Geschichte zeigt uns, dass solche Urteile eher am Ziel vorbei gehen als Recht behalten. Niemand weiß, was morgen geschieht. Eine Annahme als Tatsache darzustellen ist eine Täuschung.


5. Man täuscht die Menschen, indem man verbirgt, bis zu welchem Grade die Aussprache des Englischen es zu einer ganz besonderen Sprache macht, für die Mehrheit der Menschen schwieriger auszusprechen als die meisten anderen Sprachen. Man vermeidet zu sagen, dass die große Anzahl von Vokalen - 24 - und die Existenz von einem Phonem wie /th/, das in den Sprachen von 82 Prozent der Europäer nicht existiert, zu ständigen Quellen des Missverständnisses führt und das Risiko erhöht, sich lächerlich zu machen. Die Ausspracheunterschiede zwischen den folgenden Wörtern wahrzunehmen und wiederzugeben, ist der Mehrzahl der Bewohner unseres Planeten unmöglich: fourteen, fourty, thirteen, thirty, oder soaks, socks, sucks, sacks, sex, six, seeks usw.


6. Das Englische erfordert doppelt so viel Mühe, seinen Wortschatz zu erwerben, wie im Durchschnitt bei anderen Sprachen, aber dies wird nie herausgestellt. Eine Täuschung. In fast allen Sprachen gibt es eine Gedächtnis unterstützende Formverwandtschaft zwischen Wörtern, die verwandte Begriffe ausdrücken. So leitet man ab: Monat von Mond, Zahnarzt von Zahn, Abrüstung von Rüstung. Im Englischen ist es jedes Mal notwendig, zwei unterschiedliche Wörter zu lernen: moon/lunar, tooth/dentist, weapon/disarmament. Darüber hinaus beherrscht man die Sprache nicht, wenn man die Tausenden von Dubletten nicht kennt, wie z.B.: buy/purchase, read/peruse, freedom/liberty, threat/menace, usw. Die große Mehrheit der Sprachen funktioniert sehr gut ohne einen derart überdimensionalen Wortschatz.


7. Man gibt unterschwellig zu verstehen, dass das Englische eine normale Sprache sei, ebenso präzise wie andere. Eine Täuschung. Sie ist ganz klar ungenauer, weil es ihr an grammatischen Markern fehlt und weil die Bedeutungsfelder (semantische Felder) in ihr oft zu groß sind. Hier sind Beispiele dafür:


a) Develop an industry kann heißen „eine Industrie aufbauen“, „eine Industrie schaffen, wo es vorher keine Industrie gab“, aber ebenso „eine bereits bestehende Industrie weiter entwickeln, erweitern“.
b) Bush warned against attacking Iran kann sowohl heißen „Bush warnte vor der Idee, den Iran anzugreifen“ als auch „Bush (wurde durch andere) gewarnt vor der Idee, den Irak anzugreifen“.
c) Eine mir bekannte Dolmetscherin begann den Satz Iraqis today have no power zu übersetzen als „Die Iraker haben heute keine (politische) Macht“, und nur als die Rede einige Minuten weiter gegangen war, verstand sie, dass sie hätte übersetzen müssen: „Heute ist die Stromversorgung im Irak ausgefallen“.
d) English teacher kann ebenso gut einen englischen Mathematiklehrer bezeichnen wie eine ungarischen Lehrer der englischen Sprache.


Ich könnte noch viele weitere Beispiele nennen, aber diese reichen wahrscheinlich aus. Ich habe in relativ vielen Sprachen gearbeitet, aber keine von mir gekannte Sprache hat so viele semantische Zweifelsfälle wie das Englische. Besonders in den Rechts- und Naturwissen-schaften ist dies sehr hinderlich.


8. Man sagt, Esperanto sei ein Hobby, ein Steckenpferd von Dilettanten, eine phantastische Utopie, die nicht wirklich funktioniert. Eine Täuschung. Wenn man sie in der Praxis mit anderen Mitteln internationaler Kommunikation vergleicht - Englisch von hohem Niveau, fehlerhaftes Englisch, simultanes oder konsekutives Dolmetschen, Zeichensprache oder Stammeln in einer anderen miserabel beherrschten Fremdsprache, usw. - dann muss man konstatieren, dass das Esperanto diesen Möglichkeiten weit überlegen ist, obwohl es nicht dazu zwingt, auch nur einen Groschen in die sprachliche Kommunikation zu investieren, und obwohl das Erlernen des Esperanto sehr viel weniger an Mühe erfordert als das anderer Sprachen (im selben Alter und mit derselben Anzahl von Wochenstunden erreicht man nach sechs Monaten Esperantounterricht eine Kommunikationsfähigkeit, die man in anderen Sprachen, einschließlich des Englischen, nach sechs Jahren noch nicht erreicht hat). Die Kosten-Nutzen-Relation ist bei der Annahme des Esperanto ganz klar günstiger als bei anderen Systemen.


(Vergleichen Sie in diesem Zusammenhang: Claude Piron, "Communication linguistique : Étude comparative faite sur le terrain, Language Problems & Language Planning, vol. 26, 1, 23-50 oder http://claudepiron.free.fr/articlesenesperanto/esploro.htm Diese Internetadresse verweist auf die Esperanto-Version, der Artikel existiert jedoch auch in folgenden anderen Sprachen:
englisch: http://claudepiron.free.fr/articlesenanglais/communication.htm
niederländisch: http://claudepiron.free.fr/articlesenneerlandais/taalkundige.htm
italienisch: http://claudepiron.free.fr/articlesenitalien/studio.htm )


9. Man macht die Öffentlichkeit glauben, dass das Englische die einzige Möglichkeit bietet, der Herausforderung der Mehrsprachigkeit zu begegnen, und dass die Kosten, die sein Gebrauch verursacht, vernachlässigbar und nicht weiter zu verringern seien. Eine Täuschung. Die Kosten würden sich beträchtlich verringern, wenn das Esperanto die Rolle des Englischen übernähme, sowohl im Unterricht als auch in den internationalen Beziehungen. Der Wirtschaftswissenschaftler François Grin hat kalkuliert, dass die Übernahme des Esperanto durch die europäischen Institutionen zur Einsparung von 25 Milliarden Euro jährlich führen würde. Man macht die Öffentlichkeit auch glauben, dass das De-facto-Monopol des Englischen im Sprachunterricht keine Nachteile hätte. Eine Täuschung. Seine Ersetzung durch das Esperanto würde es ermöglichen, anderen Sprachen die Hunderten von Stunden zu widmen, die durch die sehr viel schnellere Aneignung des Esperanto eingespart werden würden. Dies würde eine wahre Diversifizierung des Fremdsprachenunterrichts ermöglichen. Die Schulen könnten so die kulturelle Vielfalt widerspiegeln, während sie derzeit den Kindern und Jugendlichen nur eine einzige Kultur nahebringen, die de facto - wenngleich niemals explizit - durch den Mangel wirklicher Konkurrenzsprachen als den anderen übergeordnet dargestellt wird.


Zusammenfassend ist festzustellen, dass die sprachliche Organisation Europas, und sogar der ganzen Welt, auf einer beeindruckenden Anzahl von Irrtümern und Täuschungen gegründet ist, die von Rede zu Rede, von Artikel zu Artikel immer wieder wiederholt werden, unabhängig davon, ob die Verbreiter der Unwahrheiten dies nun absichtlich tun oder ob sie - was sicherlich meistens der Fall ist - einfach nur wiederholen, was alle oberflächlich sagen, ohne sich darum zu bemühen, die Fakten nachzuprüfen und ohne über die Folgen ihres Handelns nachzudenken.


Was wollen Sie tun, Herr Kommissar, was will die Kommission tun, um der Wahrheit wieder zu ihrem Recht zu verhelfen? Die Wahl des Englischen als alles beherrschendes Kommunikationsmittel war niemals Gegenstand einer demokratischen Entscheidung, niemals hat man die Öffentlichkeit ehrlich informiert, niemals hat man die Bürger frei wählen lassen. Ein wirklich demokratischer Geist erfordert, dass sich die Verantwortlichen objektiv über den Charakter der verschiedenen Optionen informieren, dass sie die Öffentlichkeit objektiv und ehrlich informieren, sie auf Täuschungen hinweisen, denen sie möglicherweise ausgesetzt ist, und sie frei entscheiden lässt. Widersprechen Sie dieser Sichtweise? Wenn ja, auf was gründet sich Ihre Position?


Wenn die Kommission weiterhin dem Weg der Untätigkeit folgt, wissen wir, dass die Demokratie von den europäischen Institutionen nichts zu erwarten hat. Jede Täuschung, auch eine in guter Absicht (bonafide), kann nur zu antidemokratischen Entwicklungen führen.


Claude Piron